E-Learning – Fünf große Irrtümer

Derzeit herrscht Aufbruchsstimmung in Zusammenhang mit dem digitalen Lernen. Viele Menschen sind hochmotiviert, Neues auszuprobieren und brennen darauf, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Aus meiner Erfahrung heraus gibt es bei der Einführung moderner Lerndesigns fünf Irrtümer, die Sie unbedingt vermeiden sollten, um Frustrationen bei allen Beteiligten vorzubeugen.

 

E-Learning-Irrtum 1: Bisher als Präsenzseminar gehaltene Inhalte können 1:1 im virtuellen Raum abgebildet werden.

 

Gehen Sie bei der Umstellung auf neue Formate niemals 1:1 von Ihren bisherigen Konzepten aus. Vergessen Sie Ansätze wie „Wie kann ich mein bisheriges zweitägiges Präsenz-Seminar online abbilden?“ Das wird nicht funktionieren. Nutzen Sie die Gunst der Stunde und denken Sie Ihr Konzept völlig neu und innovativ. Denken Sie dabei so, als ob es die Präsenz-Variante Ihres Seminars nie gegeben hätte.

 

Wenn Sie sich von nun an ein neues Lernprojekt vornehmen, sollten Sie sofort die Chance nutzen und auf die in der heutigen Zeit notwendigen Veränderungen beim Lernen und Lehren eingehen. Dies betrifft die Konzepte, die Lehrformen sowie die Lernszenarien und deren zeitlichen und organisatorischen Ablauf. Dazu ist es erforderlich, die Struktur und die Aufbereitung der Lernmaterialien, die Formulierung der Aufgabenstellungen und die Kommunikation und Betreuung der Lernenden komplett zu verändern und nachhaltiger zu gestalten.

 

Lassen Sie sich gerade zu Beginn der Umstellung von der aufkommenden Euphorie im Zusammenhang mit den vielen neuen Möglichkeiten nicht überwältigen. Handeln Sie nach dem Prinzip der kleinen Schritte. Ihr neues E-Learning-Angebot darf und soll sich langsam und bewusst entwickeln und muss auch immer den in Ihrem Unternehmen gerade geltenden Rahmenbedingungen entsprechen.

 

E-Learning-Irrtum 2: Der Glaube, Interaktion passiert im virtuellen Raum von selbst

 

Leider reicht es nicht, ein Forum oder einen Chat einzurichten und davon auszugehen, dass  diese nun von den Teilnehmenden rege genutzt werden. Hier müssen die Bildungsverantwortlichen und Trainer aktiv steuern und selbst präsent sein. In unseren Kursen achten wir darauf, dass wir als Trainer vor allem zu Beginn sichtbar sind und mit eigenen Posts die Kommunikation ankurbeln. Das können Fragen sein, eigene Erfahrungsberichte oder das Einbringen von aktuellen Links. Das Signal, das wir dadurch geben wollen: „Hier tut sich etwas! Es lohnt sich, aktiv zu sein!“

 

Wenn die Lernplattformen die Möglichkeit bieten, anzuzeigen, wer gerade online ist (das kennen wir von manchen Social Media Plattformen) erleichtert das den Teilnehmenden die Kontaktaufnahme untereinander.

 

Ich fordere als Aufgabe auch ein, dass die Teilnehmer im Forum Posts ihrer Erwartungen und eigenen Lernerfahrungen machen oder dass jeder zu mindestens zwei oder drei Einträgen der Kollegen ein Statement abgibt. So locke ich die Lernenden zumindest ein paar Mal sicher ins Forum. Den Rest erledigt das positive Gefühl darüber, dass jemand ihren Eintrag wahrnimmt und kommentiert. Spätestens nach dieser ersten geplanten Intervention laufen die Einträge in den Foren und Chats wie von selbst.

E-Learning-Irrtum 3: Unterschätzen des Wir-Gefühls 

Viele Trainer, Personalentwickler usw. fokussieren sich derzeit sehr stark auf den technischen Aspekt des Online-Lernens und vergessen dabei den Menschen dahinter. Menschen sind soziale Wesen, unser individuelles Denken und Verhalten ist stark durch Gruppenzugehörigkeit geprägt. Dies wird sich auch durch die fortschreitende Digitalisierung nicht ändern. Deshalb ist mir die Humanisierung der Lernwelten  ein besonders großes Anliegen!

 

Wir dürfen den Lernenden mit seinen Bedürfnissen keinesfalls aus den Augen verlieren, wenn wir wirkungsvolle Lernangebote konzipieren wollen. Das umfasst einerseits den persönlichen Auftritt als Trainerpersönlichkeit. Wie präsent bin ich als Trainer oder Trainerin auch in asynchronen Phasen? Wie ist meine Kommunikation im Online-Raum? Und es betrifft vor allem auch das Seminardesign und inwieweit dieses eine Interaktion und Kollaboration zulässt.(mehr dazu in meinem  Online- Seminar)

 

Durch die Corona-Krise waren wir auch in meinem Unternehmen gezwungen, unsere Lehrgänge ausschließlich online durchzuführen. Ein häufiges Feedback aus dieser reinen Online-Zeit war, dass unsere persönliche Betreuung im Rahmen des Forums als sehr positiv empfunden wurde. Diese Rückmeldungen bestätigen mich in meiner Forderung nach mehr menschlicher Präsenz im Online-Raum.
(Mein HR-Tipp „Commitment in virtuellen Lerngruppen steigern“ )

 

E-Learning-Irrtum 4: Bearbeitungszeit wird mit Lernzeit gleichgesetzt.

 

In unserer Arbeitswelt ist Zeit eine wichtige Kategorie. Deshalb werden auch Lernzeiten berechnet und gemessen sowie Bildungsprozesse diesbezüglich optimiert. Dabei wird leider oft vergessen, dass sich Lernen nicht einfach mechanistisch „vertakten“ lässt und seine Zeit braucht.

 

Der zeit- und ortsunabhängige Zugriff auf Lernressourcen verspricht höhere Effektivität bzw. eine kürzere Lernzeit. Doch Achtung, die Bearbeitungszeit darf nicht mit dem wirklichen Lernen verwechselt werden. Lernen bedeutet „Zeit lassen, nehmen und geben“. Lernen braucht Zeit, es bedarf des Innehaltens und der Reflexion.

 

Kurze Lerneinheiten zwischen drei und 15 Minuten, Micro-Learnings oder Learning Nuggets genannt, stehen auf der Hitliste des Online-Lernens ganz oben. Hierbei handelt es sich um kurze Lernvideos, Podcasts, Quizzes oder Texte. Sie fügen sich flexibel in die kleinen Freiräume unseres (Arbeits-)Lebens ein.

 

Doch auch wenn sich Arbeit und Lernen immer stärker vermischen und das auch Sinn macht, sollten Sie beim Erstellen von Lern-Arrangements darüber nachdenken, für welche Inhalte welche Zeiten am Besten geeignet sind. Alles, was tiefe Reflexion und Abstand zum Nachdenken braucht, sollte in Momente außerhalb der Arbeitszeiten verlagert werden.

 

Grundsätzlich muss es ausreichend Zeit für Lernen geben, denn Lernen braucht Muße! Zeitdruck und Stress sind für alle Lernprozesse höchst kontraproduktiv. 


E-Learning-Irrtum 5: Das Bereitstellen von modern aufbereiteten Lerninhalten motiviert Menschen zum selbstorganisierten Lernen.

 

Im Zuge all der neuen Lernprojekte, die ich in den letzten Jahren betreuen durfte, hat sich eines ganz klar gezeigt: Es verirrt sich niemand zufällig in ein E-Learning-Programm, und die Begeisterung bei der Einführung komplett neuer Formate hält sich zumeist in Grenzen. Neues macht vielen Menschen nun einmal Angst.

Ob moderne Lern-Arrangements funktionieren, hängt wesentlich auch davon ab, wo die Teilnehmenden stehen und ob sie motiviert mitmachen wollen und werden. Auch wenn Programme in anderen Firmen noch so großartig aussehen und dort funktionieren, heißt das nicht, dass sie auch in Ihrer Firma gut laufen werden. Ihr Programm muss punktgenau und stimmig zu Ihrem Bedarf, Ihrer Zielgruppe und vor allem zu Ihrer Unternehmenskultur passen!

 

Unternehmen müssen im Rahmen ihres E-Learning Prozesses vermehrt darauf achten, ihre Mitarbeiter vollumfänglich an Bord zu holen. Sie müssen sich zum Beispiel fragen, ob ihre Lerner überhaupt die Selbstkompetenz haben, um mit Digitalisierung und dem daraus resultierenden Lernen wirkungsvoll umgehen zu können. Diese Themen müssen unternehmensintern unbedingt adressiert und bearbeitet werden – und dafür braucht es neben einem entsprechenden Budget auch viel Fingerspitzengefühl. Denn Lerngewohnheiten können nur langsam um die neuen Möglichkeiten ergänzt werden. Dabei müssen die gewohnten Muster und Lernbiografien berücksichtigt werden. Der schon lange geforderte Lernkultur-Wandel im Sinne von mehr Eigenverantwortung der Lernenden braucht nun einmal Zeit. 

 

Was in der Theorie so einfach und schön klingt, ist für viele Menschen, die eine andere Schulbildung durchlaufen haben, völlig ungewohnt. Bisher gaben in der Schule der Lehrer und später im Betrieb die Führungskraft oder der Trainer den Umfang und Inhalt des Lernens vor. In den modernen Lernprozessen sollen die Lernenden sich plötzlich die Lernzeiten selbst einteilen und dabei auch noch selbst für ihre Motivation sorgen. Das sind Prozesse, mit denen manche Menschen noch keine Erfahrungen gemacht haben und daher auch keine entsprechenden Strategien entwickeln konnten. Insofern sind hier von Unternehmensseite Geduld und Verständnis gefragt. 

 

Auch wichtig: die E-Learning-Formate stärker promoten.

 

Was ich mir in Zukunft unbedingt wünsche, ist zudem eine erhöhte Vermarktungskompetenz bei der Ausschreibung und Durchführung von Lernprojekten. Das  können motivierende Seminarankündigungen oder Statements von Kollegen sein, die von ihren Erfolgen nach dem bereits absolvierten Lernangebot berichten. Ähnlich den Referenzen auf Webseiten werden diese Statements via Video, Audio oder Text den neuen Teilnehmenden zur Verfügung gestellt. Auch Videostatements der Trainer kommen vorab gut an und machen Lust auf die erste Veranstaltung. Und natürlich sollten alle Einladungstexte immer inspirierend und menschlich formuliert sein. 

 

Praxis-Erfahrung: Positive Lern-Erfahrungen schaffen Begeisterung.

 

Bei aller anfänglichen Skepsis und Ablehnung, die ich zu Beginn von neuen Lern-Arrangements erlebt habe, erwies sich das Lernen im virtuellen Raum letztlich doch stets für alle Beteiligten als positive Erfahrung und war ein großer Erfolg. Sobald eine Person ein gutes Lernformat aktiv mitgemacht hatte, waren all ihre Bedenken verflogen und die Begeisterung für das Online-Lernen war fortan groß.

 

Es muss uns also gelingen, die neuen Formate schmackhaft zu machen! Der Rest spricht dann für sich! 



Mehr demnächst in meinem neuen Buch „Training und Seminare im digitalen Wandel. Der E-Learning-Kompass für erfolgreiche Schulungskonzepte

 

Sabine Prohaska

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